»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, lautet eine dieser Redewendungen, die sich einem ein ganzes Leben lang, wie heimtückische, kleine Schattenwesen, an die Seite heften. In den ersten Lebensjahren wird er einem noch in regelmäßigen Abständen hinter die Ohren geschrieben, später vermeint man den Satz dann aus den Zeilenzwischenräumen eines Kündigungsschreibens herauszulesen. Aus dem fluffigen Sprichwort, von dem man lange Zeit dachte, es wäre gar nicht an eine Handlung geknüpft, sondern würde einfach so irgendwo im Raum hängen, wird schnell das handfeste Versprechen, dass es ohne ständige Überprüfung einfach nicht geht. Gleichzeitig lernt man, dass die beiden Begriffe Organisation und Organismus viel weniger miteinander zu tun haben, als es nach den Gesetzen der Semantik eigentlich möglich sein dürfte, und es tut sich eine Lücke auf, in der es sich ein Wesen mit der höchst widersprüchlichen Bezeichnung Kontrollorgan ziemlich gemütlich gemacht hat.

Gesteigertes Vertrauen. So muss es allerdings nicht sein. Unternehmen wie dm, die Haufe Group oder sipgate zeigen tagtäglich vor, dass nicht die Kontrolle, sondern das Vertrauen die Steigerungsform verdient hat. Und zwar das Vertrauen in die eigenen Leute, das sich bei diesen Unternehmen vor allem dadurch ausdrückt, dass alle MitarbeiterInnen mit einem ungewöhnlich hohen Ausmaß an Verantwortung ausgestattet werden. Bei der Drogeriemarktkette dm glaubt man beispielsweise ganz stark daran, dass es im Arbeitsalltag vor allem um die Nutzung der individuellen Stärken und um das Einbeziehen verschiedener Blickwinkel geht. Wer also in einem einfachen Kundengespräch ein bisher noch nicht erkanntes Kundenbedürfnis ausforscht, kann dieses ganz ohne Hürden und Hemmungen ins Unternehmen tragen und damit effektiv dazu beitragen, dass Kundenwünsche noch besser abgefangen werden können. Ob es sich dabei um einen Kundenberater im Callcenter oder um eine Filialleiterin handelt, spielt keine Rolle. »Jede einzelne Mitarbeiterin und jeder einzelne Mitarbeiter ist eingeladen, in ihrem oder seinem Wirkungsbereich und darüber hinaus nachzudenken, wo etwas besser gemacht werden kann, wo etwas fehlt oder wo wir Dinge tun, die niemandem nützen. Wo jemand für sich oder sein Team Entwicklungsfelder definieren möchte zum Beispiel. So entstehen Ziele, die sich die oder der Einzelne selbst steckt. Also Ziele, die im Team, in einer Region oder einem Ressort vereinbart werden und in weiterer Folge auch die langfristigen Perspektiven für die gesamte Wirtschaftsgemeinschaft«, bringt es die Geschäftsführerin von dm Österreich, Petra Mathi-Kogelnik, auf den Punkt. Konkret bedeutet das, dass auch Einsatzpläne in Teamsitzungen in den Filialen erstellt werden und dabei auf die individuellen Lebenssituationen der einzelnen MitarbeiterInnen eingegangen wird. Dieses Modell, das bei dm unter dem Namen »lebensphasenorientierte Führung« läuft, hat sich bewährt. Das kann nicht nur an den zufriedenen Gesichtern der MitarbeiterInnen abgelesen werden, sondern spiegelt sich auch in den Umsätzen wider, gibt Mathi-Kogelnik zu verstehen. Die Begeisterung, die aus diesem Zusammenspiel von Verantwortung und Entfaltung entsteht, spürt man, so die Geschäftsführerin, nicht nur nach innen, sondern auch nach außen. »Wer sich also viel zutraut, bekommt umso mehr zurück.«

»Wer sich viel zutraut, bekommt umso mehr zurück.«

Steuerbarkeit ist eine Illusion geworden. Das vermehrte Übertragen von Verantwortung an die MitarbeiterInnen und das sanfte, aber ständige Austarieren sich andauernd verändernder Lebenssituationen erfordert allerdings ein hohes Maß an Flexibilität. Geht es nach dem ehemaligen Controller und heutigen Unternehmensberater, Vortragsredner und Buchautor Niels Pfläging, müssen das Unternehmen heute auch sein, denn fixe Pläne und in Führungsetagen definierte und festgeschriebene Zahlenziele passen nicht mehr in unsere Welt. »Heute, in Zeiten gesättigter Märkte, aufgeklärter Konsumenten, von Globalisierung, Terroranschlägen und Aschewolken, wird der Unsinn des Planens immer offensichtlicher. Eigentlich. Steuerbarkeit ist eine Illusion geworden«, erklärte er vor einigen Jahren in einem Interview, das im Magazin brand eins abgedruckt wurde. Die totale Verabschiedung des Plans, wie sie Pfläging in diesem Interview, aber auch in seinem Buch »Die 12 neuen Gesetze der Führung – Der Kodex – Warum Management verzichtbar ist« immer wieder einfordert, unterschreibt Birte Hackenjos, eine der GeschäftsführerInnen der Haufe Group, zwar nicht zu Gänze, dennoch ist auch sie der Überzeugung, dass wir heute in einer Zeit leben, in der sich bestimmte Ereignisse und Entwicklungen nur schwer oder gar nicht voraussagen lassen. Geht es um solche schwer zu kalkulierenden Veränderungen, ist man bei der Haufe Group mit allen Wassern gewaschen. Aus einem klassischen Verlagshaus mit rund 330 MitarbeiterInnen wurde innerhalb weniger Jahre ein Unternehmen, das vor allem im Bereich digitaler Lösungsansätze zu den führenden Anbietern zählt. Heute erwirtschaften rund 2.000 MitarbeiterInnen einen Jahresumsatz von 407 Millionen Euro. Wenn aus einem Traditionsunternehmen mit klarer Spezialisierung eine Unternehmensgruppe mit verschiedenen Ausrichtungen und Geschäftsfeldern wird, muss sich auch die Art der Führung verändern. Die Notwendigkeit, in den verschiedenen Teams möglichst flexibel und zeitnah auf neue Entwicklungen zu reagieren, führte deshalb dazu, dass den einzelnen Teams wie auch den einzelnen MitarbeiterInnen mehr Verantwortung übertragen wurde. »Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen und sie dorthin zu übertragen, wo sie am sinnvollsten getragen werden kann, das ist aus unserer Sicht ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Unternehmen, die sich in Transformationsprozessen befinden oder aus Gewohntem ausbrechen wollen«, sagt Hackenjos. Führung wird dabei vollkommen neu definiert: »Es gibt kein ‚Führungsmodell‘ mehr, welches auf alle MitarbeiterInnen und auf jede Situation passt. So kann agile Führung eben auch bedeuten, in einem Team wechselnde Verantwortlichkeiten zu installieren oder die Rollen unterschiedlich zu besetzen, angepasst auf das jeweilige ‚Wohin‘ oder ‚Wie‘. Führung bleibt dabei aber weiterhin wichtig, und nicht etwa verzichtbar.«

»Es gibt kein ‚Führungsmodell’ mehr, welches auf alle MitarbeiterInnen und auf jede Situation passt.« Brigitte Hackenjos, Geschäftsführerin Haufe Group
Petra Mathi-Kogelnik ©Marco Riebler

Die Macht der Peers. Ein Unternehmen, das auf diesem Weg zur geplanten Planlosigkeit bereits sehr viele Etappen erfolgreich hinter sich gebracht hat, ist das deutsche Unternehmen sipgate. Beim Anbieter von Internet-Telefonie wanderten nach und nach auch immer mehr klassische Führungsaufgaben wie das Recruiting von der Geschäftsführung an die MitarbeiterInnen. Peer Recruiting nennt sich das bei sipgate angewandte Verfahren, bei dem die MitarbeiterInnen nicht nur darüber entscheiden, ob es überhaupt einen Bedarf an neuen Arbeitskräften gibt, sondern auch die Bewerbungsgespräche selbst durchführen und die am besten geeigneten Kandidaten einstellen. Bonuszahlungen und Beförderungen gibt es nicht. Wer bei sipgate arbeitet, denkt aber auch nicht daran, sich bis zur obersten Stufe der Karriereleiter durchzukämpfen, sondern möchte das Unternehmen auf die höchste Ebene heben. Damit das möglich wird, ist es aber notwendig, dass das Unternehmen – und damit auch die Verantwortung dafür – auf den Schultern der MitarbeiterInnen balanciert. »Wir glauben, dass extrinsische Motivationsfaktoren wie Boni die intrinsische Motivation stark hemmen, die bei uns ja aus der Verantwortung heraus entsteht, die wir den MitarbeiterInnen übertragen«, so Carina Visser, Mitglied des Personalteams bei sipgate. »Ich gehe stark davon aus, dass Begeisterung für das Unternehmen, in dem ich arbeite, dadurch ausgelöst wird, dass ich mich verantwortlich fühle und wirklich das Gefühl habe, dass ich etwas verändern und beitragen kann. Es hat also Auswirkungen, wie ich mich verhalte«, fasst Visser ihre Erfahrungen zusammen. Die Größe des Unternehmens spielt dabei eine geringere Rolle, als man beim ersten Nachdenken vermuten würde. Auch sipgate ist seit seiner Gründung im Jahr 2004 auf 180 MitarbeiterInnen angewachsen. Einzig die Stempeluhr im Eingangsbereich des Firmengebäudes in Düsseldorf trübt das Bild der schönen, neuen Arbeitswelt. Oder doch nicht? Carina Visser korrigiert: »Wir glauben daran, dass mehr Arbeiten nicht mehr Qualität bedeutet. Und unsere Erfahrung hat uns gezeigt, dass gerade Leute, die intrinsisch motiviert sind, schnell mehr arbeiten. Die Stempeluhr erinnert uns immer wieder daran.«

»Wir glauben, dass extrinistische Motivationsfaktoren wie Boni die intrinistische Motivation stark hemmen.«

Carina Visser © Oliver Tjaden

Vertrauen nährt Begeisterung. Wenn ManagerInnen, wie Niels Pfläging erklärt, der fixen Überzeugung sind, dass man Planung braucht, um die MitarbeiterInnen unter Kontrolle zu bringen, dann steckt dahinter immer auch der Glaube, dass MitarbeiterInnen prinzipiell nicht leistungswillig sind und man ihnen folglich auch nicht trauen kann. Immer mehr Unternehmen widerlegen aber, dass es so ist und zeigen auf, dass Vertrauen und die Übertragung von Verantwortung gemeinsam jene fruchtbare Schicht bilden, auf der Begeisterung ungestört wachsen kann. Nur, wenn Unternehmen diesen nicht direkt mit Zahlen messbaren Wachstumsprozess zulassen, davon ist Pfläging überzeugt, können sie im Einklang mit unserer unfertigen, kaum kontrollierbaren Welt agieren und arbeiten. Eine Einstellung, die auch Birte Hackenjos vertritt: »Wichtig ist, den Plan immer wieder zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen. Und dies nicht von oben nach unten, sondern auch durch die Erfahrung und die Arbeit der MitarbeiterInnen. In der Führung loslassen heißt nicht, keine Ziele mehr vorzugeben, aber es heißt auch, den MitarbeiterInnen zuzuhören und ihre Einschätzung in der Zielsetzung mit einfließen zu lassen.« Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der aktuellen Printausgabe von SHEconomy. Einen Auszug aus dem Heft finden Sie hier.